Herauskommen aus der eigenen „Bubble“
Sibylle Schwenk in der Reihe „kreuz und quer“ der Remszeitung
In der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Lage, wo Menschen für Demokratie und Solidarität demonstrieren, reihen sich die Kirchen mit einem sehr klaren Statement ein: „Unser Kreuz hat keine Haken“. Ein einprägsamer Slogan. Nächstenliebe verlangt Klarheit, sie verlangt, dass wir deutlich hinsehen, deutlich reden und handeln. Christliche Werte wie Solidarität und Nächstenliebe dulden keine Kompromisse. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ – dieses Zitat aus dem Matthäus-Evangelium hat heute mehr Bedeutung denn je. Ein Gespräch mit dem evangelischen Pfarrer Lukas Golder und dem katholischen Dekanatsreferenten Romanus Kreilinger.
- Die Unzufriedenheit der Menschen mit politischen Entscheidungen und Existenzängste treiben Menschen zu extremen, oft radikalen Meinungen. Was würden Sie diesen Menschen gerne zurufen?
Golder: Ich möchte sagen: Wir nehmen euch wahr, wir nehmen euch ernst. Lasst uns gemeinsam nach Lösungen suchen. Gehen wir miteinander ins Gespräch!
Kreilinger: Ich rede viel lieber mit den Menschen als über sie. Deshalb ist die Aufforderung zum Gespräch bei konträren Meinungen immer der erste und beste Schritt.
- Wie kann Solidarität heute aussehen, wenn Meinungen so weit auseinanderdriften?
Golder: Solidarität heißt, dass ich ein Angebot mache, bei dem ich auch eine Absage aushalten muss. Doch wenn Grenzen überschritten werden, was zum Beispiel in verschiedenen Parolen der Fall sein kann, dann muss man sich klar positionieren und seine Meinung kundtun.
Kreilinger: Das gilt vor allem, wenn es um die Schwachen in unserer Gesellschaft geht.
- Nächstenliebe schließt auch die Feindesliebe ein…
Kreilinger: Man muss sich bewusst machen, dass es eine Trennung gibt zwischen dem Menschen selbst und seinem Verhalten.
Golder: Die Trennung von Person und Werk ist bereits ein Grundsatz, den Martin Luther geäußert hat. Wenn man das zu Ende denkt, wird es leichter, einen Menschen, der etwas Unmögliches getan hat, trotzdem zu akzeptieren und ihn mit seinen Gedanken zu hören.
- Was kann man konkret im eigenen Umfeld tun oder ändern, damit man durch solidarisches Handeln die Welt ein bisschen besser macht?
Golder: Wir können mit offenen Augen durch die Welt gehen und „Stopp“ sagen, wo es gegen die Schwachen geht. Wir können klar Stellung beziehen – aber überlegt und nicht einfach herausposaunt, wie es nicht selten in den Kommentaren auf Social media der Fall ist. Andere Meinungen zu hören ist wichtig, auch um herauszukommen aus der eigenen „Bubble“. Da sehe ich auch uns als Kirche in der Pflicht.
Kreilinger: Dieses Stellungbeziehen begegnet mir fast jeden Tag im Zug. Wenn ich einem Gespräch zuhöre, wo es um diskriminierende Inhalte geht, dann mische ich mich ein. Ich halte nicht einfach den Mund. Oder wenn ein obdachloser Mensch an der Straße sitzt, dann sollte er oder sie gegrüßt werden, um zu zeigen: Ich sehe dich, ich nehme dich wahr.