Ohnmacht und Hoffnung
Pater Dr. Martin Leitgöb in der Reihe „Wort zum Sonntag“ Schwäbische Post
Der Philosoph Walter Benjamin schrieb in den ersten Monaten des Zweiten Weltkrieges eine Abhandlung mit dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“. Darin verwendet er, angeregt durch eine Zeichnung von Paul Klee, ein eigenartiges Gedankenbild. Er spricht von einem Engel, der mit seiner ganzen Gestalt nicht nach vorne schaut, sondern zurück. Aus der Vergangenheit weht diesem Engel ein starker Wind ins Gesicht und auf die ausgespannten Flügel. So wird er rücklings in die Zukunft getrieben und muss zugleich ansehen, wie sich der Trümmerhaufen menschlicher Geschichte unablässig vergrößert.
„Engel der Geschichte“ nennt Walter Benjamin sein Gedankenbild. Mich stimmt dieses Bild nachdenklich, vor allem im Hinblick auf den Ukrainekrieg, der nun seit einem Jahr anhält. Wie viele andere Zeitgenossen starre ich auf das wachsende Unheil, das dieser Krieg schafft. Ich denke zum Beispiel an zwei ukrainische Mitbrüder aus meiner Ordensgemeinschaft, die vor Wochen verschleppt wurden. Man weiß seither nicht, wo sie sind und wie es ihnen geht. Ich denke an die gefallenen Soldaten auf beiden Seiten und an deren Eltern, Ehefrauen und Kinder. Ich denke an die Verwundeten, an die Flüchtlinge, an die Traumatisierten.
Walter Benjamin schreibt, dass der Engel der Geschichte „die Toten und das Zerschlagene zusammenfügen“ möchte. Doch es ist ein ohnmächtiger Engel. Und Ohnmacht ist ein Gefühl, das auch mich im Blick auf die Ukraine und auf andere Katastrophen unserer Zeit umfängt. So wünsche ich mir einen anderen Engel herbei: einen, der hilft, nach vorne zu schauen. Dem ukrainischen Volk selbst scheint ein solcher Engel der Hoffnung nicht unbekannt, sonst hätte es schon längst den Mut aufgegeben. Daran nehme ich mir ein Beispiel.